Last Updated on 18. Januar 2022 by Marita
Ich werde oft gefragt: Ab welchem Alter können Kinder Gewaltfreie Kommunikation lernen? Die Antwort ist: ab sofort! Wirklich, egal wie alt deine Kinder sind, du kannst heute anfangen, mit ihnen „Giraffensprache“ zu sprechen.
Marshall Rosenberg hat oft Trainings an Schulen durchgeführt, erst mit den Grundschülern, dann Mittelstufe, Oberstufe und ganz am Schluss mit den Lehrern. Er sagt, die Kleinen brauchen die kürzeste Zeit, um es zu kapieren: ca. eine Stunde. Je älter die Menschen sind und je länger sie mit Wolfsdenken programmiert wurden, desto schwieriger wird es. Kindern fällt es oft viel leichter als Erwachsenen zu erkennen, was ihr Gefühl und ihr Bedürfnis ist, weil sie noch sehr gut mit sich selbst verbunden sind und dies nicht im Laufe der Jahre und durch Erziehung und Anpassung verlernt haben. Es lohnt sich also, die Giraffensprache möglichst schnell in deiner Familie einzuführen. Ich sage dir, wie das gelingt.
Symboltiere Giraffe und Wolf
Der Name Giraffensprache und die Symbolkraft der Tiere sind sehr hilfreich, um die unterschiedlichen Arten sich auszudrücken für Kinder anschaulich zu machen. Die Giraffe ist das Landtier mit dem größten Herzen. Durch ihren langen Hals hat sie einen guten Überblick und die nötige Distanz, um Konflikte ohne Urteile und Bewertungen beobachten zu können. Außerdem kann sie sich besonders gut in sich selbst und den anderen einfühlen. Sie steht für eine verbindende, wertschätzende, liebevolle Sprache.
Den Gegenpart dazu übernimmt der Wolf. In einem Wolfsrudel herrscht eine hierarchische Machtstruktur. Der Leitwolf sagt, wo es langgeht, die anderen folgen. Wer sich nicht an das hält, was im Rudel als richtig und falsch gilt, wird bestraft und ausgeschlossen. Fühlt sich ein Wolf bedroht, geht er in die Kampfhaltung. Seine Urteile und Bewertungen sind pauschal. Er gilt als aggressiv, laut und verurteilend.
Die Wolfssprache ist weit verbreitet und das, was instinktiv aus uns herausbricht, wenn wir in Stresssituationen nicht bewusst umschalten. Konflikte, Streit, Beschimpfungen, Kritik, Verurteilungen entstehen im Wolfmodus. Zu sagen, der Wolf ist böse und wir sollten alle Giraffen werden, ist aber zu leicht gedacht. Der Wolf hat nämlich eine wichtige Funktion in unserem Leben: Ärger rauslassen. Solange ich mir bewusst bin, dass ich gerade als Wolf denke, ist es durchaus heilsam, alle Bewertungen und Urteile zunächst einmal in meinem Kopf zuzulassen, um danach die Ruhe zu haben, als Giraffe auf eine Situation zu schauen.
Giraffensprache-Grammatik – Die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation
Weil es uns so schwer fällt, in den Giraffenmodus zu kommen, schlägt Marshall Rosenberg vier Schritte vor. An dieser Struktur können wir uns entlanghangeln. Das gibt uns eine gewisse Sicherheit, solange wir noch Babygiraffen sind.
Die vier Schritte sind Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitte. Um diese vier Schritte für Kinder besser anschaulich zu machen, mache ich dazu Handbewegungen. (Die Idee stammt aus dem wunderbaren Buch „Ich will verstehen, was du wirklich brauchst“ von Frank Gaschler)
1. Schritt der Giraffensprache: Was hast du gesehen? (Beobachtung)
Ich halte meine Hand wie einen Fotoapparat vors Gesicht und stelle dazu die Frage „Was hast du gesehen?“
Diese Art der Formulierung ist viel wertvoller als „Was ist passiert?“ Letztere führt nämlich schnell zu Bewertungen wie „Lisa hat mich geärgert!“. Es ist entscheidend, die Beobachtung von der Bewertung strikt zu trennen. Ich wiederhole die Beobachtung und frage jedes Kind, das am Konflikt beteiligt ist, ob es das auch so gesehen hat. Manchmal kann auch eine „Zeugenaussage“ helfen, wenn zum Beispiel zwei der Geschwister Streit hatten und das dritte dabei war. Sollte es schwer sein, die Beobachtung neutral zu formulieren, kann man sagen: „Guck dir das Foto, das du von der Szene gemacht hast, noch einmal an. Was siehst du darauf?“ Am Ende dieses ersten Schrittes haben wir eine neutrale Beschreibung des Vorfalls, der alle zustimmen.
2. Schritt der Giraffensprache: Wie fühlst du dich? (Gefühl)
Beim Benennen des Gefühls legen wir die Hand auf unser Herz. „Ich bin wütend“, „Ich bin traurig“, „Ich bin total sauer“. Es geht darum, sich auf das eigene Gefühl zu konzentrieren, im Gegensatz zu Gedanken wie „Tom ist gemein“, „Selbst schuld“, „Der hat mich geärgert.“ Das kann für das andere Kind auch einen Empathieprozess einleiten: „Deine Schwester ist richtig sauer.“
Wichtig: Das Gefühl führt zum Bedürfnis hin und darf nicht mit der Beobachtung verknüpft werden. Also: „Du bist sauer, weil dir wichtig ist, selbst zu entscheiden, wer mit deinen Sachen spielt.? Nicht: „Du bist sauer, weil Tom deine Puppe weggenommen hat.“
3. Schritt der Giraffensprache: Was brauchst du? (Bedürfnis)
Das Bedürfnis finden wir im Bauch. Wir legen unsere Hand oder beide Hände auf den Bauch und stellen die Frage „Was brauchst du?“, „Was ist dir gerade wichtig?“ oder „Worum geht es dir?“
Das Gefühl ist ein Wegweiser hin zum Bedürfnis, im Konfliktfall weist es auf ein unerfülltes Bedürfnis hin. Ein Bedürfnis ist etwas Grundlegendes, Universelles. Etwas, das alle Menschen haben. Dadurch ist es etwas Verbindendes. Es ist wichtig, die Bedürfnisse so zu formulieren, dass Kinder sie verstehen. Hier ein paar Beispiele:
- Authentizität: Du möchtest zeigen und sagen, was in dir los ist?
- Autonomie: Du möchtest selbst entscheiden, wie und wann du etwas tust?
- Beständigkeit: Du möchtest darauf vertrauen können, dass es nächstes Mal wieder so ist?
- Effektivität: Du möchtest, dass Dinge schneller und besser passieren?
- Empathie: Du möchtest, dass andere sehen, wie es dir geht und was du brauchst?
- Frieden: Du möchtest dich vertragen/ Deine Ruhe haben?
- Gerechtigkeit: Du möchtest, dass für alle dasselbe gilt/ alle gleich viel bekommen?
- Kreativität: Du möchtest ausprobieren und sehen, was du schaffen kannst?
- Nähe: Du möchtest spüren und sehen, dass jemand dich mag?
- Rücksicht: Du möchtest, dass deine Bedürfnisse und die der anderen wichtig sind?
- Struktur: Du möchtest wissen, was als nächstes passiert?
- Trauern: Du möchtest zeigen, wie traurig du bist?
- Verbindung: Du möchtest spüren können, dass du dazugehörst/ wir füreinander da sind?
- Wertschätzung: Du möchtest, dass andere bemerken, wie wertvoll du für sie bist?
4. Schritt der Giraffensprache: Worum willst du bitten? (Bitte)
Im 4. Schritt können wir den anderen um etwas bitten. Unsere Geste dafür ist das Zeichen „bitte“ aus der Gebärdensprache: die aneinander gelegten Hände. Denkbar ist auch, die Hände zu öffnen oder wie eine Schale geformt vor den Bauch zu halten.
Die Bitte ist meistens eine konkrete Handlungs- oder Lösungsbitte. „Gib mir bitte meine Puppe zurück.“, „Versprich mir bitte, dass du mich das nächste Mal vorher fragst, wenn du mit meinen Sachen spielen willst.“ Wichtig ist, dass sie konkret, positiv formuliert und sofort erfüllbar ist.
Wie finde ich das Bedürfnis meines Kindes heraus?
Zum Thema Bedürfnis hat mir eine Mama folgende Frage gestellt:
„Ich versuche meine Tochter auch immer zu fragen warum sie etwas tut oder möchte, aber dann kommt nicht viel. Und wenn ich konkret frage, willst du… oder machst du das weil… kommt meist ein ja. Ich hab dann immer das Gefühl, dass ihr das in den Mund gelegt habe und das eigentlich nicht der richtige Grund ist. Hast du einen Tipp wie ich anders da ran gehen könnte?“
Es ist ganz oft so, dass der Gegenüber (egal ob Erwachsen oder Kind) nicht genau weiß, was er braucht. Deshalb ist die Frage „Worum geht es dir?“ oder „Warum hast du das gemacht?“ nicht zielführend, weil er es tatsächlich nicht beantworten kann. Es ist daher ganz legitim zu „raten“/vermuten, was wohl das Bedürfnis des anderen war. Voraussetzung dafür ist deine Haltung, also tatsächlich neugierig-helfend. Oft schwingt vielleicht doch etwas strafend-erzieherisches mit, was das Kind dann wahrnimmt und worauf es reagiert. Das könnte evtl. bei deiner Tochter der Fall sein, da sie noch nicht damit vertraut ist, dass ihr so auf diese Weise mit ihr umgeht. Daher greift sie auf ihre bisherige Erfahrung zurück, die halt sowas war wie „wenn ich es zugebe, bekomme ich weniger Ärger“ oder so.
Wie wichtig es ist, die eigene Haltung zu überprüfen, darüber schreibe ich in diesem Artikel.
Ich bin gespannt, wie du die Giraffensprache in deinem Familienalltag integrierst. Schreib mir doch eine Email (marita@patchworkaufaugenhoehe.de) oder erzähl davon in meiner Facebookgruppe. Ich freue mich auf dich.
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Als ich den Kurs angefangen habe, war es so, dass ich meine Bedürfnisse nicht erkannt habe, weil ich immer für alle anderen da war. Mit dem Kurs habe ich einen klaren Fokus darauf bekommen, zu schauen, worum es mir geht, welche Werte und Bedürfnisse dahinterstehen und wie ich das kommunizieren kann.
Das beste, was ich herausgenommen habe, ist der Gedanke: Ich kann nur an meinem Ende vom Seil etwas bewirken und nicht an dem anderen. Kommunikation, Zuhören, dass man nur sagt, was man beobachtet hat und es nicht bewertet und dadurch in ein Gespräch geht… Ich habe einen sehr guten Werkzeugkasten bekommen. Ich hoffe, dass es damit gut weitergeht und sich auf die anderen auch überträgt.