Last Updated on 3. April 2024 by Marita
Narzissmus. „Du wirst schon sehen, WEN du dir da geangelt hast!“
Wer von der Mutter der eigenen Bonuskinder Sätze wie diesen hört, kriegt vermutlich erstmal eine Gänsehaut. Vor allem wenn der eigene Partner ebenfalls steif und fest behauptet: „Meine Ex ist Narzisstin!“
Es ist gar nicht so selten, dass Ehemalige Partner*innen voneinander sagen, sie seien „narzisstisch“ oder „toxisch“.
Natürlich sind wir meist geneigt, dem Menschen an unserer Seite Glauben zu schenken und ihn für die fittere Hälfte des ehemaligen Paares zu halten. Aber, weiß man’s…?! Denn: Bei genauer Betrachtung ist ja auch unsere bessere Hälfte nicht gesprächsbereit, schiebt es aber auf den oder die Ex. Frei nach dem Motto: „Meine Ex ist narzisstisch – darum kann ich nicht mit ihr reden!“
Wer hat hier recht? – Wenn es denn sowas überhaupt gibt…
Meine Ex ist narzisstisch
Fangen wir vorn an. Nämlich mit der Frage, was sich eigentlich hinter den beiden Modewörtern verbirgt, die streitende Ex-Paare sich in schöner Regelmäßigkeit an den Kopf werfen:
„Toxisch“ bedeutet „giftig“ und steht für Dynamiken und Verhaltensweisen, die unkonstruktiv sind und in der Beziehung zwischen Menschen Schaden anrichten.
Narzissmus ist eine der möglichen Ursachen toxischen Verhaltens – aber längst nicht die einzige. Auch andere seelische Erkrankungen, wie zum Beispiel die Borderline-Persönlichkeitsstörung gehen häufig mit toxischen Interaktionsmustern einher. Doch um sich sich – salopp gesagt – auf diese Weise danebenzubenehmen bedarf keiner psychischen Erkrankung.
Was ist Narzissmus?
„Narzissmus“ ist ein selbst in der Wissenschaft höchst strittiger Begriff. Umgangssprachlich betitelt man damit Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung oder Menschen mit stark ausgeprägten narzisstischen Zügen. Das beschriebene Verhalten bewegt sich also in einem breiten Spektrum von leichter Überheblichkeit bis hin zu seelischer und körperlicher Gewalt.
Auch wenn Narzissmus noch nicht pathologisch ist, kann er für nahe Angehörige problematisch sein. Den Leidensdruck hat hier meist nicht die betroffene Person, sondern ihr Umfeld.
Narzissten sind nicht alle gleich
Es scheint verschiedene Facetten von Narzissmus zu geben. Gemäß dem Forschungsteam von Aaron L. Pincus ließen sich vier Qualitäten unterscheiden:
- Grandioser Narzissmus – das, was wir landläufig unter Narzissmus verstehen: Großkotziges Verhalten, das von Anspruchsdenken und Egozentrismus, sowie einem Mangel an Empathie geprägt ist. Solche Eltern wollen häufig durch ihre Kinder glänzen.
- Vulnerabler Narzissmus – eine Ausprägung, die auf den ersten Blick alles andere als narzisstisch wirkt: Die Opferhaltung offenbart die Größenphantasie erst auf den zweiten oder dritten Blick – sie gefallen sich beispielsweise in der Rolle der geradezu heroisch aufopferungsvollen Eltern.
- Grandioser und vulnerabler Narzissmus gehen Hand in Hand und treten gemeinsam auf. Zwei Seiten einer Medaille. Die Beschreibung dieser Aspekte als zwei distinkte Typen entstammt der Selbsthilfeliteratur, und kann hilfreich sein, um einen Griff auf die vielen Gesichter zu bekommen, mit denen uns Narzissmus bei unterschiedlichen Menschen begegnet.
- Zu allem Überfluss können sowohl der grandiose als auch der vulnerable Narzissmus offen (also beobachtbar) oder verdeckt (also nur durch einen Schluss auf die zugrundeliegenden Motive zu erahnen) auftreten – und zwar bei ein und derselben Person. Auch hier unterscheidet die Selbsthilfe-Szene zwei Typen: Offen narzisstische Eltern würden ihre Kinder beispielsweise unverhohlen und explizit kleinmachen. Unterschwelliger sieht das beim verdeckten Narzissmus aus: „Bist du sicher, dass du das schaffst?“ könnte die scheinbar besorgte Frage solcher Eltern lauten, so dass ihre Kinder nach und nach den Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten verlieren.
Mit narzisstischen Menschen zusammenzuleben kann unglücklich machen, die eigene Lebensführung einschränken und seelische wie körperliche Erkrankungen nach sich ziehen. In extremeren Fällen kommt es unter Umständen sogar zu Gewalt.
Narzissmus und toxische Verhaltensweisen
Zu den toxischen Verhaltensweisen, wie sie auch für den Narzissmus typisch sind, gehören auch diese drei besonders charakteristischen:
- Gaslighting – das Verunsichern einer Person, die schlussendlich ihrer Wahrnehmung und ihrer Einschätzung der Situation misstraut, und so immer abhängiger vom Urteil der Person wird, die sie gaslightet. Das kann mit Worten passieren, wie zum Beispiel „Das habe ich nie gesagt!“ oder auch mit Taten: Wenn das Lieblingskuscheltier kurz vor der eiligen Abfahrt plötzlich verschwindet, obwohl es eben noch dort lag.
- Silent Treatment – die Stillebehandlung, die das Gegenüber durch eingeschränkte Kommunikation bestraft.
- Abwertung – das Herabsetzen anderer, das durchaus auch sehr subtil passieren kann – getarnt durch Witze etwa.
Grundsätzlich
- zeigen narzisstische Menschen eher antagonistische Verhaltensweisen,
- sind an Lösungen oder Kompromissen wenig interessiert,
- agieren zum Teil (offen oder verdeckt) kontrollierend,
- neigen zu passiv-aggressivem Verhalten oder Drohungen,
- sind in aller Regel weder willens noch in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, geschweige denn zu reflektieren und eigene Schwächen zu sehen.
- Alles in allem macht sie das zu herausfordernden Gegenübern.
Hinzu kommt, dass eine Trennung durch sie oftmals als tiefe Kränkung empfunden wird, was dazu führen kann, dass sie zu Rache neigen. Dies kann sich im Rahmen eines Trennungsprozesses auch dahingehend auswirken, dass die Kinder zum Spielball elterlicher Machtkämpfe werden. Denn oft sind sie der einzige Hebel, über den es nach wie vor möglich ist, dem oder der Ex eins auszuwischen. Das kann sich etwa darin zeigen, dass erbittert ums Sorgerecht gestritten wird, obwohl zuvor nie ein Interesse an einem Beitrag zu Erziehung und Sorgearbeit bestand.
Du bist Narzisst – nein Du!
Aber zurück zur Anfangsfrage: Wie kann es nun dazu kommen, dass beide Seiten eines Paares den gleichen Vorwurf, den Narzissmus-Vorwurf, erheben?
Eine mögliche Erklärung kann sein, dass diese Modebegriffe teils inflationär benutzt werden, und zwar für alle Menschen, mit denen es schwierig wird.
Einen anderen Erklärungsansatz könnte die Tatsache liefern, dass narzisstische Menschen zu Projektion neigen. Dieser seelische Abwehrmechanismus hilft ihnen, ihr großartiges Bild von sich aufrecht zu erhalten, um nicht die dahinterliegende, empfundene Mickrigkeit spüren zu müssen. Dabei sehen sie alles, was sie an sich selbst nicht mögen, im Gegenüber. Es kommt daher nicht selten vor, dass sie anderen narzisstische Verhaltensweisen oder eine entsprechende Diagnose unterstellen. Und in dem Zusammenhang kommt es zuweilen ebenfalls dazu, dass wir vor diesem vermeintlich schlimmen Finger gewarnt werden, wie in: „Du wirst schon sehen, was du dir da für einen geangelt hast!“. Das ist übrigens eine weitere Manipulationstechnik: Triangulierung. Bei der hier beschriebenen Dreiecksbildung wird ein Keil des Misstrauens zwischen dich und deinen Partner getrieben, während die Senderin sich als warnende Retterin inszeniert, und somit wichtigmacht.
Was ist nun von dem Totschlagargument „Meine Ex ist Narzisstin – darum kann ich nicht mit ihr reden!“ zu halten?
Einerseits kann darin viel Wahrheit liegen: Narzisstische Menschen verhalten sich häufig ganz anders als wir es von „normalen“ Menschen (was immer das sein soll) erwarten würden. Und wir kommen mit unserem Glauben an das Gute, an ein gelingendes Miteinander oder Errungenschaften wie Metakommunikation oftmals nicht weiter.
Dann braucht es spezielle Gesprächstechniken.
Andererseits ist es aber – ob nun Narzissmus vorliegt oder nicht – wichtig, die eigenen Bedürfnisse in den Kontakt zu bringen. Dabei können die oben erwähnten Gesprächstechniken eine Hilfe sein. Grey Rock sei hier als ein Beispiel erwähnt. Dabei macht man sich so uninteressant wie einen grauen Stein, um dem narzisstischen Gegenüber weder zum Claqueur noch zur Zielscheibe zu werden.
Was ist Grey Rock?
Grey Rock ist die bekannteste Kommunikations-Methode für die Interaktion mit narzisstischen Personen. Dabei geht es darum, ihnen die Aufmerksamkeit sowie andere Arten von Zufuhr zu entziehen, die sie – zur Stabilisierung ihres Selbstwertgefühls – permanent von ihrem Umfeld erwarten. Diese Weigerung, das Spiel mitzuspielen, findet allerdings so unmerklich statt, dass es im besten Fall nicht zu einem offenen Konflikt führt – der wiederum narzisstische Zufuhr liefern würde. Denn ein Streit beweist, dass die narzisstische Person mächtig genug ist, mich zu einem Ausraster zu provozieren, oder mir schlechte Gefühle machen kann.
Achtung: Anfänglich kann der Aufmerksamkeits-Entzug zu Love Bombing führen, mit dem man uns wieder an die Angel kriegen will. Oder auch zu Eifersucht auf andere oder einer anders gearteten Anspannung des Verhältnisses, um uns heftige Emotionen zu entlocken.
Wenn du durchhältst, verliert die narzisstische Person allerdings in der Regel irgendwann das Interesse.
So wirst du zum grauen Stein:
- Kurze, knappe Antworten
- Unemotional und sachlich bleiben
- Oberflächlich aber höflich sein
- Nicht vertiefen
Wie gehe ich denn jetzt mit einer narzisstischen Ex um?
Wenn du jetzt den Verdacht hast, der oder die Ex deiner neuen Flamme könnte tatsächlich narzisstische oder toxische Muster an den Tag legen, macht es Sinn, wenn Ihr euch schlau macht.
Wissen um diesen Interaktionsstil ist die wichtigste Säule dabei, damit umgehen zu lernen. Das kann zentral sein, um sinnvolle Absprachen zu treffen, und um für das Wohl der Kinder und für den Seelenfrieden in deiner neuen Partnerschaft sorgen. Dabei hilft die Lektüre von Ratgebern und Podcasts etc. ebenso wie persönliches Coaching.
Coaching ja, aber besser ohne die narzisstischen Ex
Wenn die Belastung zu groß wird, kann auch eine Therapie sinnvoll sein; diese sollte allerdings keinesfalls mit der narzisstischen Person zusammen durchgeführt werden, wie beispielsweise in Familientherapien üblich. Denn narzisstische Menschen sind gute Trickser. Sie streuen den Beratenden nicht selten Sand in die Augen, und stellen erneut das Opfer als Täterperson dar. Zudem sind toxische Beziehungen und emotionaler Missbrauch auch bei Profis noch ein wenig unter dem Radar. Deshalb werden sie unter Umständen nicht als solche erkannt. Eine Therapie setzt Reflexionsbereitschaft und -Fähigkeit voraus – diese ist in aller Regel, bedingt durch den Narzissmus, nicht vorhanden. Im Gegenteil: Eure Öffnung im Therapiegespräch kann dem narzisstischen Part dazu dienen, Eure wunden Punkte besser auszuloten.
Unterstützung für die Kinder von Narzissten
Auch die Kinder brauchen unter Umständen entsprechende Begleitung. Ängste oder Depressionen können ein Zeichen dafür sein, dass Handlungsbedarf besteht. Wichtig ist auch, im Blick zu haben, dass das Selbstvertrauen der Patchwork-Kinder sich (trotz der Herausforderungen, die es mit dem anderen Elternteil erlebt) gut entwickeln kann.
Das Wichtigste ist, sie spüren zu lassen, dass sie um ihrer selbst willen geliebt werden. Ohne Bedingungen und unabhängig von ihren Leistungen oder Erfolgen. Das ist nämlich das, was in narzisstischen Elternhäusern meist zu kurz kommt. Denn dort dreht sich (auch wenn es nach außen hin ganz anders wirken mag) letztlich nichts um die Kinder, sondern um die Funktion, die sie für ihre Eltern haben – und damit um die Eltern. Hier gilt es gegenzusteuern.
Weitere Infos über Narzissmus bekommst du auf der Webseite von Turid Müller.
Turid Müller ist Diplom-Psychologin und ausgebildete Schauspielerin. An der Schnittstelle von Kommunikation und Kreativität ist sie als Coach, Speakerin und Trainerin tätig. Parallel dazu tritt sie mit eigenen Kabarettprogrammen auf und schreibt Songtexte und Musicals. Ihr besonderes Engagement gilt der Sensibilisierung der Gesellschaft für unbequeme Themen – zum Beispiel für den Umgang mit Demenz. Weil sie selbst die verstörenden Folgen einer toxischen Beziehung erlebt hat, beschäftigt sie sich auch beruflich mit dieser bisher eher unbekannten Form des Narzissmus. Ihr neues Buch: Verdeckter Narzissmus in Beziehungen (*affiliate link)