Last Updated on 31. März 2022 by Marita
Lydia von lydiaswelt.com hat eine Blogparade zum Thema Respekt gestartet. Respekt ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Gleichzeitig berichten mir viele Stiefmütter oft von „respektlosem“ Verhalten der Bonuskinder. Das nehme das als Anlass, das Thema Respekt einmal näher zu beleuchten.
Der Begriff „Respekt“ wird im allgemeinen Sprachgebrauch in ganz unterschiedlichen Sinnzusammenhängen genutzt:
- „Ich behandle jeden Menschen mit Respekt.“ (eine Form von Höflichkeit)
- „Dieses Verhalten kann ich respektieren.“ (Toleranz)
- „Ich habe großen Respekt gegenüber Menschen, die zu ihren Schwächen stehen.“ (Wertschätzung)
- „Dir werde ich Respekt beibringen!“ (Angst, Autorität)
Re·s·pekt/Respékt/Substantiv, maskulin [der]
- auf Anerkennung, Bewunderung beruhende Achtung“[großen, keinen, einigen] Respekt vor jemandem, etwas haben“
- vor jemandem aufgrund seiner höheren, übergeordneten Stellung empfundene Scheu, die sich in dem Bemühen äußert, kein Missfallen zu erregen“sich Respekt verschaffen“
Laut dieser offiziellen Definition von Google gibt es im wesentlichen zwei unterschiedliche Aspekte: die positive Anerkennung oder Bewunderung einerseits und die negativ behaftete Scheu oder Angst andererseits. Diese beiden Sichtweisen werden gerade in der Kindererziehung häufig vermischt! Inwiefern Erwachsene ihre Macht über Kinder einsetzen, habe ich im Artikel „Adultismus – Macht und Privilegien von Erwachsenen“ erläutert.
Die eigentliche Bedeutung von „Re-spekt“
Das Wort Respekt kommt vom lateinischen respectio, das bedeutet „Rückschau, Einschätzung, Betrachtung“. Noch weiter auseinander genommen besteht das Wort aus der Vorsilbe re = wieder und specere = schauen. Also jemanden „wieder anschauen“. Das bringt uns direkt zum wichtigsten Grundbedürfnis der Menschen: Gesehen zu werden.
Wenn Du also sagst „Ich möchte respektiert werden!“ meinst Du, dass Du mit Deinen Gefühlen und Bedürfnissen gesehen werden willst. Das ist Empathie! Wir wünschen uns, dass unser Gegenüber nachvollziehen und verstehen kann, wie es uns geht. Wir möchten, dass unsere Werte Raum haben und dass unsere Bedürfnisse anerkannt werden. Das alles verpacken wir in dem kleinen Wort Respekt.
Warum gibt es generell in unserer Gesellschaft so wenig Respekt?
Der Rhetoriker Rene Borbonus sieht dafür im Wesentlichen drei Gründe:
- Wir schaffen uns absichtlich ein respektloses Klima, weil Respektlosigkeit uns unterhält. Sein sehr prägnantes Beispiel dafür ist Dieter Bohlen, der „Ghostwriter für Respektlosigkeiten hat“, über die die Zuschauer sich dann amüsieren.
Auch die Anonymität und die Geschwindigkeit der heutigen Kommunikationsmedien machen uns respektlos. Wenn man sich früher über jemanden geärgert hat, hat man seinen Unmut vielleicht in einem Brief ausgedrückt. Bis man mit diesem dann allerdings beim Postkasten ankam, war der erste Zorn schon wieder verflogen. Dadurch wurden viele wütende Briefe erst gar nicht losgeschickt. Heutzutage hingegen ist eine Nachricht oder ein Kommentar in einem Forum sehr schnell abgesendet. - Wir denken manchmal, Menschen seien respektlos, obwohl sie es gar nicht sind. Man weiß nicht immer, was der andere braucht, auch wenn man sich versucht, in ihn hineinzuversetzen. Somit kann die Handlung, für die man sich dann entscheidet, auf den anderen respektlos wirken.
Im Menschenbild der Gewaltfreien Kommunikation gilt die Grundannahme, dass Menschen nicht gegen andere handeln sondern immer für ihre eigenen Bedürfnisse. Hinter einem vermeintlich respektlosen Verhalten steht also ein anderes Bedürfnis. Allein diese Sichtweise kann schon für viel Entlastung in emotionalen Situationen sorgen. - Wir sind aus Versehen respektlos und merken gar nicht, dass wir es sind. Viele Respektlosigkeiten sind im Ansatz gut gemeint.
Im Alltag zeigt sich das zum Beispiel im Bagatellisieren d.h. Verharmlosen. Wenn jemand emotional auf uns zu kommt, sagen wir oft „Ist doch nicht so schlimm! Das schaffst Du schon.“ Das ist zwar gut gemeint, aber es sieht den anderen nicht. Im Grunde genommen ist dieses Wegwischen von Gefühlen schon rhetorische Gewalt. Das Gegenteil – die Verschlimmerung – ist allerdings genauso wenig hilfreich: „Dass Du das aushältst! Ich könnte das nicht. So würde ich nicht leben wollen.“ Auch dieser Ansatz ist gut gemeint, aber überhaupt nicht hilfreich.
Kein Mensch ist bösartig – da dürfen Sie von sich auf andere schließen!
Rene Borbonus über Respekt
Wie bekommt man mehr Respekt?
Die Antwort ist einfach: Indem man selbst respektvoll ist.
Wie oben beschrieben, bedeutet Respekt nichts Geringeres als „den anderen zu sehen“. Menschen werden empathisch, wenn sie selbst Empathie bekommen. Wenn Du möchtest, dass der andere sein Verhalten ändert, lebe ihm vor, wie Du es gern hättest. Zeige ihm, wie Respekt funktioniert – und zwar gerade in Situationen, in denen es Dir schwer fällt, respektvoll zu bleiben. Es klingt nach der bekannten „Goldenen Regel“: Behandle andere so wie Du selbst gern behandelt werden möchtest.
Vielleicht sagst Du jetzt: „Aber das tue ich doch! Ich bin nicht respektlos!“ Okay, vielleicht sagst Du bitte, danke, hallo und guten Morgen, lässt Deine Socken nicht rumliegen und spülst nach dem Toilettengang. Doch bist Du auch bereit, den anderen tatsächlich zu sehen?
Respekt – ein Fallbeispiel
Respekt hat immer zwei Seiten. Meistens sehen wir nur eine, unsere eigene Sichtweise und bewerten auf dieser Grundlage das Verhalten von anderen. Eine Situation, die Du vielleicht kennst oder sicher gut nachvollziehen kannst, spielt sich am Samstagmorgen ab:
Respekt aus Sicht einer Stiefmutter
Am Wochenende ist Dein Bonuskind bei euch. Du hast schon mit dem Frühstück bis 10 Uhr gewartet, aber „der Herr“ ist immer noch nicht aufgestanden. Unverschämtheit! Er kennt doch die Regeln. Und Du gehst ja schließlich schon darauf ein, dass er länger schlafen will. Der ganze Tagesablauf dreht sich um das Kind. Und als er dann endlich – im Schlafanzug! – in die Küche getrabt kommt, kommt nicht mal ein Guten Morgen! Selbst als Du ihn überdeutlich und extrem freundlich ansprichst, ignoriert er Dich. Das hätte es früher nicht gegeben! Respektlos, Dir als Erwachsenem gegenüber. Und Dein Mann sagt nichts dazu! Wenigstens der sollte seinem Kind Manieren beibringen, wenn sich schon die Kindsmutter um nichts kümmert…
eine Stiefmutter, eine von vielen 😉
Okay, Du wünschst Dir einen freundlichen Umgang miteinander. „Guten Morgen“ zu sagen ist für Dich ein sichtbares Zeichen dafür. Dieses Bedürfnis „gesehen zu werden“ ist absolut legitim und nachvollziehbar. Allerdings muss das nicht zwangsläufig dadurch geschehen, dass Dein Bonuskind Dich morgens begrüßt. Wie stellt sich das ganze denn aus seiner Sicht dar?
Die gleiche Situation aus Sicht des Kindes
Dieses Wochenende bin ich wieder bei Papa und seiner Freundin. Die macht morgens immer voll den Stress! Da hab ich endlich mal frei, aber statt dass ich in Ruhe ausschlafen kann, muss ich oberpünktlich zum Frühstück antanzen. Voll gemein! Und dann mache ich das schon extra und komme wie gewünscht in die Küche – da werde ich direkt angepampt! Ich bin noch nicht mal richtig wach und soll schon einen auf heile Welt und happy family machen. Den ganzen Tag muss ich machen, was alle anderen wollen. Statt schön gechillt zu daddeln, werden ständig irgendwelche Ausflüge geplant. Mega stressig! Ich will doch einfach nur ein entspanntes Wochenende bei meinem Papa verbringen.
ein Bonuskind 😉
Vielleicht liegt Dir beim Lesen direkt ein „Ja, aber…“ auf der Zunge. Wir wollen gern schnelle Lösungen und setzen automatisch beim anderen an. Was hat der falsch gemacht? Wo sollte er sich ändern?
Heute drehen wir das einmal um. Denn wie ich oben bereits gesagt habe: Respekt bekommt der, der selbst respektvoll ist, das heißt, der den anderen sieht.
Dein Weg zu mehr Respekt
Schauen wir uns die Situations“beschreibung“ aus Sicht der Stiefmutter einmal genauer an, stellen wir fest, dass viele Bewertungen darin enthalten sind. Ich habe diese fett markiert:
- aber „der Herr“ ist immer noch nicht aufgestanden
- Unverschämtheit!
- Der ganze Tagesablauf dreht sich um das Kind.
- Und als er dann endlich – im Schlafanzug! – in die Küche getrabt kommt, kommt nicht mal ein Guten Morgen!
- Selbst als Du ihn überdeutlich und extrem freundlich ansprichst, ignoriert er Dich.
- Das hätte es früher nicht gegeben!
- Respektlos, Dir als Erwachsenem gegenüber.
- Und Dein Mann sagt nichts dazu! Wenigstens der sollte seinem Kind Manieren beibringen, wenn sich schon die Kindsmutter um nichts kümmert…
Oft steckt die (Ab)Wertung in kleinen unscheinbaren Wörtern wie immer, nie, endlich. Wir Menschen reagieren instinktiv, indem wir uns dagegen wehren, entweder lautstark im Gegenangriff oder zumindest innerlich mit Abschottung. Kein Wunder, dass das Bonuskind auf diese Haltung reagiert und sich selbst nicht gesehen fühlt.
Natürlich ist es anders herum nicht besser. Auch das Kind ist auf seine eigene Sicht beschränkt und versteht nicht, warum es hier der Stiefmutter „auf die Füße tritt“ und wofür es „angemeckert“ wird. Irgendwie vertrackt – denn jeder denkt, der andere sei Schuld, gemein und müsste sich ändern.
Fakten schaffen Verbindung
Wie würde denn eine Beschreibung aussehen, der tatsächlich beide zustimmen können?
„Um 10:15 Uhr ist Tom im Schlafanzug in die Küche gekommen.“
neutrale Beobachtung
Nicht mehr und nicht weniger. Respektvoll in dieser Situation zu sein, bedeutet, den anderen zu sehen. Die Stiefmutter wünscht sich Kontakt, das Kind möchte seine Ruhe haben. Dabei hat das nichts mit dem jeweils anderen zu tun. Wenn beide es schaffen, das zu sehen, kann eine Beziehung entstehen, auf der jeder bereit ist, etwas für den anderen zu tun.
Was denkst Du über diesen Blick auf das Thema Respekt? Schreib mir es in die Kommentare oder teile es mit anderen in der Facebook-Gruppe. Ich freue mich auf Deine Sichtweise!
Liebe Marita,
ich bin eben über Lydias Blogparade auf deinen Artikel aufmerksam geworden und finde sehr interessant, wie du die Situation zwischen „Bonus-Mutter“ und „Bonus-Kind“ konstruktiv „auseinandernimmst“!
Ja, du hast Recht, nicht die Fakten selbst führen oft zu Konflikten, sondern unsere negative Bewertung und die Erwartung, der andere solle unsere (nicht ausgesprochenen) Bedürfnisse erfüllen. Kontakt vs. Ruhe – beides ist legitim und würde sich ohne den Druck der übergroßen Erwartungen vermutlich sogar verbinden lassen. Insofern fehlt uns manchmal wohl gar nicht in erster Linie der Respekt voreinander, sondern v.a. die Fähigkeit, den anderen unvoreingenommen wahrzunehmen.
Danke für diesen Denkanstoß!
Herzlichen Gruß
Sarah
Liebe Sarah, danke für Dein Feedback. Ich freue mich, dass ich eine neue Facette zum Begriff Respekt für Dich beitragen konnte. Ja, oft geht es nur um einen Wechsel der Blickrichtung. Liebe Grüße, Deine Marita