Last Updated on 6. März 2023 by Marita
Ein Teil davon Eltern zu sein, ist die Kinder zu „erziehen“. Doch welche Art von Erziehung möchte ich selbst? Wie stelle ich mir die Beziehung zu meinem (Bonus)Kind vor?
Werdende Mütter haben in der Regel 9 Monate Vorbereitungszeit mit Kursen, Begleitung durch Ärzte und Hebammen und Tipps von allen Seiten. Diese Unterstützungen fallen für Stiefmütter weg. Quasi über Nacht hast Du ein Baby, Kindergartenkind, Schulkind oder pubertierenden Teenager (oder sogar mehrere) vor die Nase gesetzt bekommen und musst jetzt entscheiden, wie Du mit ihm umgehen willst.
Wie viel darf oder soll ich mich in die Erziehung einbringen?
Das Wissen darum, dass Du als neue Frau an Papas Seite keinen Erziehungsaufrag hast, kann gerade am Anfang sehr entspannend sein. Du kannst Dich so viel einbringen, wie Du möchtest bzw. wie es im gemeinsamen Alltag mit Deinem Partner sinnvoll erscheint.
An dieser Stelle ist es vernünftig, sich damit zu beschäftigen, was Erziehung generell – und für Dich persönlich – bedeutet.
Was ist Erziehung?
Das Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik definiert Erziehung so:
Erziehung und erziehen (lt.Duden von ahd. irziohan = herausziehen) bedeutet, jemandes Geist und Charakter zu bilden und seine Entwicklung zu fördern. Im allgemeinen versteht man unter Erziehung soziales Handeln, welches bestimmte Lernprozesse bewusst und absichtlich herbeiführen und unterstützen will, um relativ dauerhafte Veränderungen des Verhaltens, die bestimmten Erziehungszielen entsprechen, zu erreichen.
Erziehung – geschichtliche Entwicklung
Erziehungsratschläge gab es schon bei den antiken Philosophen und sogar auf ägyptischen Steintafeln. Der Schweizer Pädagoge und Schulreformer Johann Heinrich Pestalozzi veröffentlichte 1801 den Elternratgeber „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“, zur gleichen Zeit entstanden weitere pädagogische Bücher für das gehobene Bürgertum.
Bis ins 20. Jahrhundert war das Ziel von Erziehung, das Kind dazu zu bringen, in der Welt zu „funktionieren“. Hauptzielsetzung war dabei die Unterordnung unter die „Respektspersonen“, die sich den Respekt teilweise mit Schlägen und Beschimpfungen einforderten. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es erste Reformen unter anderen durch die Erkenntnisse von Sigmund Freund, die allerdings durch den Nationalsozialismus beendet wurden.
Erziehungsratschläge der NS-Zeit
Dr. Johanna Haarers „Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ war einer der populärsten Mütter-Ratgeber der NS-Zeit, dessen Folgen auf Generationen von Kriegskindern und Nachkriegskindern bis heute nicht abzuschätzen sind. Disziplin, Gehorsam und Fügsamkeit waren die wichtigsten Werte. Ende der 1960er Jahre kamen durch die Hinwendung der 68er-Generation zur Pädagogik Antiautoriäre Erziehungskonzepte („laissez faire“) auf. Seit Mitte der 90er Jahre gibt es zum einen den lauter werdenden Ruf zurück zu mehr Disziplin („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“), auf den anderen Seite aber auch Familienberatung und Elternbildung in Richtung einer bedürfnisorientierten Erziehung.
Kinder sind Menschen – wenn auch noch nicht so lange
Diese neueren Konzepte legen ein grundsätzlich anderes Menschenbild zugrunde. Anstatt Kinder als unfertige und unfähige Erwachsene anzusehen, die ohne Erziehung unmöglich zu anständigen Staatsbürgern heranwachsen können, nimmt man sie wahr als perfekt ausgestattete Babys, (die wissen, wie sie dafür sorgen, etwas zu essen zu bekommen), Dreijährige, (die alle Fähigkeiten haben, um die Welt zu erkunden und wieder ins sichere Nest zurückzukommen) oder Achtjährige, (die immerzu spielen wollen, um möglichst viel zu lernen).
In Deutschland gilt der Grundsatz der Gleichberechtigung unabhängig von Rasse, Geschlecht oder Herkunft. Gleichzeitig gibt es als Phänomen der Alltagsdiskriminierung den so genannten „Adultismus„, also die Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen aufgrund ihres Alters. Natürlich orientieren sich Kinder an ihren Eltern und anderen Erwachsenen als Vorbilder und wollen und sollen von diesen auch lernen.
Für mich ist der Grundsatz der Gleichwertigkeit aber entscheidend. Die Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche von Kindern sind genauso wichtig und müssen genauso berücksichtigt werden wie die der Eltern. Auf dieser grundlegenden Annahme der Gleichwertigkeit kann die Beziehung zwischen Eltern und Kindern erst gedeihen.
Erziehung durch Vorbild
Für mich ist Erziehung kein Konzept, das man abspult. Vielmehr sehe ich es so, dass jeder, der Zeit mit einem Kind verbringt, es durch sein eigenes Verhalten prägt und demnach auch “erzieht”.
Ein Zitat, das Karl Valentin zugeschrieben wird, lautet:
Wir können unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns eh alles nach.
Viel wichtiger als eine lehrbuchmäßige Erziehungsmethode ist demnach das authentische Vorleben von Werten und Verhaltensweisen. Unter diesem Blickwinkel kann Erziehung auch nicht untersagt werden (zum Beispiel von der Kindsmutter). Durch die gemeinsame Zeit, die Du mit dem Kind Deines Mannes verbringst, hast Du automatisch einen gewissen Einfluss, auch wenn Du Dich bewusst aus der Erziehung heraushalten willst. Die Frage, die Du Dir jetzt stellen solltest, ist: Wie möchtest Du mit den Kindern umgehen?
Wenn Menschen Liebe gepredigt wird, dann lernen sie nicht lieben, sondern predigen.
Alice Miller
Hilfreiche Grundannahmen
Wie in früheren Artikeln beschrieben gehen Kinder je nach Alter unterschiedlich mit einer neuen Frau an Papas Seite um. Aber auch der Charakter, das Selbstbild und bisherige Erfahrungen und Erziehung beeinflussen das Verhalten. Um die Schwierigkeiten von “Trennungs- und Scheidungskindern” aufzufangen gibt es viele Ratgeber, Bücher und Therapieangebote.
Hier geht es vor allem um die Handlungsfähigkeit der Stiefmutter. Diese hat in dem “Beziehungsdreick” zwischen leiblichen Eltern und Kind zunächst keinen Platz, sondern kommt von außen als zusätzliche Bezugsperson für das Kind hinzu. Die Basis dafür muss zuvor durch Mutter und Vater gelegt werden. Der kurze Abriss über grundlegende Verhaltensmuster von Kindern bestimmter Altersgruppen ist also nur als Hintergrundinformation gemeint.
Wichtig für Dich als Stiefmutter sind die Grundannahmen für das Verhalten von Kindern:
- Sie handeln aus einem Bedürfnis heraus.
- Was sie tun, tun sie für sich – und nicht gegen Dich.
- Sie tun immer das beste, was sie in dem Moment gerade können.
- Sie handeln immer aus einem guten Grund.
- Jede Form vom Vorwurf, Angriff oder Urteil, ist ein Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse.
- Menschen tragen gern zum Wohlergehen anderer bei, (aber nur) wenn sie dies freiwillig tun können.
Wenn Du diese Sichtweise annehmen kannst, hast Du schon viel gewonnen. Vor allem Leichtigkeit und Gelassenheit für Dich selbst.
Du erziehst so wie ich nicht will
Ja, es mag Unstimmigkeiten geben, was den Erziehungsstil angeht. Vielleicht stört Dich das Verhalten der Kinder am Esstisch. Sie sind unhöflich, räumen nicht auf, sind frech und hören nicht auf das, was Du sagst. Nun ja, es sind Kinder. Es ist leicht, hier als “Sündenbock” die Erziehung der leiblichen Mutter ins Feld zu führen.
Wären es die eigenen Kinder, die Schwierigkeiten machen, würde man stattdessen eher entweder die Kinder verurteilen oder an sich selbst zweifeln. Nichts davon ist hilfreich. Die Schuldfrage zu klären bringt Dich nicht weiter, weil sie auf die Vergangenheit ausgerichtet ist. Wenn Du stattdessen die Gegenwart annimmst, wie sie in dem Moment ist, kannst Du aktiv nach möglichen Lösungen für den aktuellen Konflikt suchen. “Willst Du Recht haben oder glücklich sein?” – beides zusammen geht nicht.
Bedürfnisorientierte Kindererziehung
Zu diesem Thema sind mittlerweile zum Glück auch viele gute Bücher erschienen. Im Gegensatz zu den “klassischen” Erziehungsmethoden mit Strafe und Belohnung, Konsequenz und Machthierarchie geht es vor allem darum, die Kinder als gleichwürdige Menschen anzusehen. Sie haben Bedürfnisse wie Du und ich – und ihre Bedürfnisse sind genauso wichtig wie Deine eigenen. Im Konfliktfall ist das Ziel, eine Lösung herbeizuführen, die die Bedürfnisse aller berücksichtigt.
“Unden” von Bedürfnissen
Ich nenne diesen Prozess “unden”. Das Wort “und-en” ist eine in Verbform gebrachte Version des Bindewortes “und”, also “und machen”. Es geht darum, Lösungen zu finden, die deine UND meine Bedürfnisse erfüllen, mit denen also beide Parteien zu 100 % zufrieden sind. Weg von “entweder-oder”, hin zu “sowohl-als auch”.
Das mag zunächst utopisch klingen. Dazu gehört etwas Umdenken – in unserer Gesellschaft sind wir nämlich leider darauf konditioniert, möglichst einen Kompromiss zu finden. Der ist aber nichts anderes als eine halbherzige Mittelposition, bei der beide Parteien auf Teile ihrer eigentlichen Anliegen verzichten müssen. Aus diesem Grund gehen Kinder auch nicht gern Kompromisse ein, denn ihr Bedürfnis bleibt dabei unbefriedigt und auch als Erwachsene kennt man doch das schale Gefühl, der Kompromiss sei “faul” und nicht wirklich zufriedenstellend.
Lieblingslösung loslassen
Vielleicht ist eine Lösung, die alle Bedürfnisse verbindet, nicht immer ganz einfach zu entdecken. Es lohnt sich aber, kreativ zu werden. Denn eines steht fest: Es gibt immer mehrere Strategien zur Bedürfnisbefriedigung und je öfter man es übt, nach Alternativen zur eigenen “Lieblingslösung” zu suchen, desto leichter wird es.
Grundlage dafür, Bedürfnisse miteinander zu verbinden, ist natürlich, sich dieser zunächst einmal bewusst zu werden. Das setzt einen inneren Prozess voraus.
- Worum geht es mir?
- Warum löst eine bestimmte Situation in mir Wut aus?
- Was steckt dahinter?
- Was brauche ich?
- Worum geht es mir eigentlich?
Um herauszufinden, was Du brauchst, kannst Du Dich fragen: Was würde sich für mich erfüllen, wenn es anders wäre? Wenn sich jemand anders verhalten würde. Wenn Du Dein Bedürfnis kennst, kannst Du dafür sorgen, dass Du das bekommst, was Dir momentan fehlt.
Deine Bedürfnisse ernst nehmen
Und dann: Sprich es aus! Wenn Du Deine Bedürfnisse nicht ernst nimmst, tun andere es auch nicht.
Dann überlege Dir verschiedene Strategien, die Dir gut tun würden. Eine gute Methode dafür ist die „Bedürfnissonne„.
Wie erfüllt sich für Dich “Ruhe”? Kaffee trinken, in die Sauna gehen, lesen, ein Bad nehmen, Spaziergang im Wald, Musik hören, Film gucken… Du siehst, es gibt viel mehr Möglichkeiten als “Das Kind ist still – und ich habe meine Ruhe.”
Jetzt hast Du das Steuer wieder in der Hand und kannst Deinen Akku aufladen. Unabhängig vom Verhalten der anderen. Das wiederum hat eine positive Wirkung auf die Atmosphäre und für alle Familienmitglieder.
Ich bin einfach nicht die echte Mama. Werde ich je eine gute Beziehung zu meinem Bonuskind aufbauen können?
Wodurch entsteht eine “gute Beziehung”? Was braucht es dafür?
Ja, die Gene haben einen gewissen Einfluss auf die intensität des Gefühls Liebe. Sich darauf aber “auszuruhen” und zu denken, dass es deshalb nicht gehen kann, ist dem Entstehen einer Patchworkfamilie nicht dienlich. Unabhängig von der Biologie ist der Aufbau einer liebevollen Beziehung aber ein willentlicher Akt, ein Entschluss. Er wächst aus meiner Haltung heraus, dass ich dem anderen Menschen – egal wie alt er ist – auf Augenhöhe begegnen möchte.
Ich gehe also als der Mensch, der ich bin, in die Beziehung zu meinem Bonuskind. Nicht in einer bestimmten Rolle, sondern so, wie ich bin. Mit meinen Gefühlen und Bedürfnissen. Entscheidend ist die Art und Weise, wie ich mich zeige.
Die Sprache, die wir gelernt haben, führt leider oft dazu, dass diese Verbindung verletzt wird. Statt über uns selbst zu sprechen und dem, was in uns lebendig ist, wollen wir dem anderen oft sagen, dass er sich anders verhalten soll. Wenn wir in Bewertungen denken, hat das den Effekt, dass der andere in Widerstand geht. Er spürt, dass er hier Vorwürfe oder Verurteilungen erhält und reagiert darauf entsprechend. Sein Bedürfnis nach Autonomie oder Sicherheit lässt ihn schützend für sich einstehen – und daher die Beziehung (für diesen Moment) lösen.
Wie kann es also anders gehen?
BEziehung statt ERziehung
Beim Umgang miteinander steht die BEziehung an erster Stelle vor der ERziehung. Mit dem gefürchteten Laissez-faire, bei dem Kinder Dir auf der Nase herumtanzen und tun und lassen, was sie wollen, ohne Rücksicht zu nehmen und ohne dass jemand einschreitet, hat das freilich überhaupt nichts zu tun. Den Blick auf die Bedürfnisse zu richten bedeutet Kinder ernst zu nehmen. Und da Kinder uns “eh alles nachmachen” (s. Zitat oben) lernen sie Respekt und Rücksichtnahme eben dadurch, dass sie selbst respektiert und wertgeschätzt werden – und nicht durch Drohen oder Ermahnen.
Entscheidend ist Deine Haltung. Erziehung geschieht immer aus einer Position von oben herab. Der Erwachsene, der (de jure vermeintlich) Erziehungsberechtigte, sagt dem Kind, was es zu tun und zu lassen hat. Druck erzeugt Gegendruck. Wenn die Bedürfnisse des Kindes nicht gesehen werden, hat es also nur zwei Möglichkeiten: Unterwerfung oder Auflehnung. Je nachdem wie alt das Kind ist, was es bisher erlebt hat und was es für einen Charakter hat, wird es eher das eine oder das andere wählen. Vielleicht tut es irgendwann das, was Du (bzw. ein erziehender Erwachsener) gefordert hast. Aber was hast du damit wirklich erreicht?
Erziehung als Machtkampf ist immer eine schlechte Idee, denn es verschlechtert sich die Qualität der Beziehung – ganz gleich, wer zwischendurch einen Punktsieg verbuchen konnte.
Werte statt Bewertungen
Wie kannst Du also auf wertschätzende Art und Weise mit dem Kind in Verbindung treten? Bei Bewertungen ist die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, was der andere ist, weil er etwas bestimmtes tut oder sagt. Das führt zu Rechthaberei und der Tendenz, andere zu bestrafen oder zu belohnen. “Du bist unverschämt!” oder “Dumme Göre!” sind Dinge, die Du vielleicht denkst oder sogar aussprichst.
Was geschieht, wenn Du stattdessen die Aufmerksamkeit auf Deine Werte richtest, also dem, was Dir gerade wichtig ist, was Du brauchst? Das führt zu Aktivitäten und Bitten mit dem Ziel, Bedürfnisse zu erfüllen. Ein “Ich will jetzt meine Ruhe haben!” oder “Ich bin grad verdammt wütend!” hat trotz des dahinterliegenden Gefühls der Wut eine ganz andere Wirkung, weil Du mit diesen Äußerungen bei Dir selbst bleibst. Kein Angriff, sondern ein Hilfeschrei sozusagen.
Wird irgendwann der Satz fallen: “Du bist nicht meine Mama, du hast mir nichts zu sagen!”? Wie soll ich darauf reagieren?
Diese Frage löst sich auf, wenn Du die Beziehung zu Deinem Bonuskind in der eben beschriebenen Weise aufbaust. Dann geht es nämlich überhaupt nicht darum, ob “Du ihm etwas zu sagen hast”. Wenn Du Deine Position nicht als Legitimation für Befehle ansiehst, entsteht auch nicht das Spannungsfeld Mama sein vs. Stiefmutter sein.
Statt Dich auf eine Rolle festzulegen, bei der sich darüber streiten lässt, ob diese die Macht umfasst, dem Kind Anweisungen zu geben oder nicht, bist Du ein Mensch mit Bedürfnissen. Nicht mehr und nicht weniger. Ganz authentisch.
Menschen sind auf Beziehungen angelegt. Dein Bonuskind ist ebenfalls ein Mensch und kann Deine Bedürfnisse daher nachvollziehen. Es muss sie nicht teilen, aber das Verständnis darüber reicht aus, um gute Lösungen zu finden. Die Beziehung bricht in dem Moment ab, in dem Du Dich nicht mehr zeigst, sondern auf eine Position zurückziehst. Die vermeintliche Macht durch Strukturen ist nicht authentisch – und dagegen lehnen Kinder sich auf.
Nun zeigt sich diese Haltung in vielen kleinen und großen Situationen im Alltagsleben. Einige davon beleuchte ich in den nächsten Wochen in der Artikelserie „BEziehung vor ERziehung“.